Artikel von Dr. Miroslav Vodnansky im Jäger 07/17

Viel Stress im Gatter?
Dr. Miroslav Vodnansky – Mitteleuropäisches Institut für Wildtierökologie Wien-Brno-Nitraim
In der letzten Zeit sorgten Jagdgatter sowohl in Deutschland wie auch in Österreich für Schlagzeilen. In Schleswig-Holstein hat das Verwaltungsgericht entschieden, dass die zwei etwa 1.300 ha große Jagdgatter der v. Bismarcks abgebaut werden muss. In Burgenland wurde in dem heuer verabschiedeten Jagdgesetz festgelegt, dass keine neuen Gatter mehr gebaut werden dürfen und jene, die bereits bestehen, spätestens in sechs Jahren zu öffnen sind. Auch in Niederösterreich, wo bereits seit einigen Jahren keine neuen Gatter mehr errichtet werden dürfen, wurde vor kurzem angekündigt, dass alle vorhandenen umfriedeten Jagdgebiete bis zum Jahr 2029 aufgelassen werden müssen. Die Diskussion um die Jagdgatter ist nicht neu. In folgenden Ausführungen geht es weder um die Befürwortung noch um die Ablehnung dieser Einrichtungen, sondern nur um die Sachlichkeit und Korrektheit bei der Argumentation. Man kann zu den Gattern und der Jagd darin unterschiedlicher Meinung sein, aber es ist bedenklich, wenn ihr Verbot ohne sachliche, auf fachlicher Ebene geführte Diskussion erfolgt. Und diese Diskussion sollte von der Jägerschaft geführt werden und von niemand anderem. Das umso mehr, weil damit ein wichtiger Grundpfeiler unseres Jagdsystems, nämlich die gesetzlich verankerte Verbindung mit dem Grundeigentum, berührt wird und manche Argumente, die heute gegen Gatter angeführt werden, könnten sich einmal später auch gegen die Jagd allgemein, oder zumindest gegen unser Jagdsystem, wenden. Wenn die Gatter heute von einigen Politikern als Relikt der Feudalzeit bezeichnet werden, wer garantiert, dass dies nicht letztlich auf alle Jagdgebiete übertragen wird. Generell steht das Jagdrecht dem Grundeigentümer zu, dies ist verfassungsrechtlich garantiert.

Eine wichtige Frage ist, wie die Lebensbedingungen des Wildes in umfriedeten Jagdgebieten im Vergleich zu den freien Jagdgebieten sind. Um die Haltung von Wild in den umfriedeten Jagdgebieten im Hinblick auf seine natürlichen Bedürfnisse beurteilen zu können, sollte zuerst klargestellt werden, was für das Wohlergehen der Tiere wichtig ist. Da sich in dieser Hinsicht einzelne Tierarten teilweise unterscheiden, hat sich eine artgerechte Tierhaltung an den artspezifischen Bedürfnissen der Tiere zu orientieren. In den umfriedeten Jagdgebieten wird am häufigsten Schwarz-, Rot-, Dam- sowie Muffelwild gehalten. In der Wildbiologie sind die wichtigsten Bedürfnisse dieser Wildarten klar definiert.

Erstens ist es eine artgerechte Nahrung, die den Tieren in ausreichender Menge und guter Qualität nach ihren physiologischen Anforderungen jederzeit verfügbar sein muss. Zweitens ist es ein ausreichender Klima- und Sichtschutz, der für die Wildtiere unabdingbar ist. Drittens ist es ausreichende Ruhe. Das Ruhebedürfnis ist allerdings nicht so zu verstehen, dass sich die Tiere in einem ständigen Ruhemodus befinden müssen. Das wäre kein natürlicher Zustand, denn auch in der von Menschen nicht beeinflussten Natur werden die Wildtiere immer wieder kurzfristigen Beunruhigungen ausgesetzt. Der damit verbundene Stress hat keine negativen Auswirkungen auf den Organismus, sofern er dessen Reaktionsfähigkeit nicht übersteigt und zeitlich begrenzt ist. Der Begriff „Stress“ beschreibt nach dessen ureigener (wissenschaftlicher) Definition eine unspezifische Reaktion des Organismus auf jede Anforderung. So ist er nicht immer automatisch mit den emotional negativ besetzten Begriffen „Leiden“ oder „Qualen“ gleichzusetzen (wie das mitunter so laienhaft geäußert wird), sondern muss viel differenzierter interpretiert werden.

Für die Wildtiere sind kurzfristige Stresssituationen nicht unnatürlich, da sie immer in ihrer Evolutionsgeschichte Beutetiere für bestimmte in den Nahrungsketten höher gestellte Arten waren und sich mit deren Angriffen auseinandersetzen mussten. Deshalb sind sie an plötzliche Überraschungsangriffe entweder einzeln jagender Beutegreifer (z.B. Luchs) oder auch längere Hetzjagden durch sozial gut organisierte Gruppen von Beutegreifern (z.B. Wolfsrudel) von Natur aus sowohl physisch wie auch physiologisch gut angepasst. Das formte auch die Fähigkeiten ihres Organismus auf solche Situationen entsprechend zu reagieren. Bei den Nutz- und Haustieren wurden hingegen manche den Wildtieren eigene Eigenschaften und Fähigkeiten im Laufe der Domestikation stark abgeschwächt oder sogar gezielt unterdrückt wurden, weil sie oft dem Zuchtzweck widersprachen. Deshalb ist ein Vergleich zwischen den Wildtieren und den Nutz- und Haustieren bei der Bewertung von bestimmten Lebenssituationen nicht immer angebracht.

Kurzfristiger Stress stellt für die Wildtiere keine physiologische Beeinträchtigung dar, sofern damit die Reaktionsfähigkeit ihres Organismus nicht überfordert wird. Sehr empfindlich sind Wildtiere jedoch gegenüber einer dauerhaften oder sich häufig wiederholenden Beunruhigung, bei der sie in einer ständigen Anspannung verharren müssen. Eine solche langfristig anhaltende Stressbelastung (Dauerstress) hat bei den Tieren nicht nur eine Beeinträchtigung des Hormonhaushalts mit allen negativen Auswirkungen für den Organismus zur Folge, sondern führt bei ihnen auch zu einer gravierenden Störung des Lebensrhythmus und des gesamten Stoffwechsels.
Das Leben der Wildtiere im umfriedeten Areal stellt für diese keine Beeinträchtigung dar, sofern ihre natürlichen Bedürfnisse ausreichend gedeckt werden. Das schließt zu den bereits genannten Bedürfnissen auch den Bedarf an sozialer Integration und Kontaktmöglichkeit zu potentiellen Paarungspartner ein. Die in den umfriedeten Gebieten durch Einzäunung eingeschränkte Bewegungsfreiheit spielt keine Rolle, denn auch in freier Natur sind für die Tiere die verfügbare Nahrung, klimatische Bedingungen, Sicherheitsgefühl und die Suche nach dem Paarungspartner bzw. sozialen Kontakt zu den Artgenossen die entscheidenden Beweggründe dafür, ob sie auf einem bestimmten Standort verbleiben oder ihren Standort wechseln.

So paradox das erscheinen mag, aber in den umfriedeten Jagdgebieten kann mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse des Wildes genommen werden als in den Freigebieten. Vor allem hat das Wild in den umfriedeten Jagdgebieten meist wesentlich mehr Ruhe. Denn in den „freien“ Jagdgebieten ist der Zwang zur Regulierung der Wildbestände mittlerweile oft so groß, dass dies bei den derzeit aktuell immer mehr erweiterten Schusszeiten eine starke jagdliche Beunruhigung praktisch ohne Unterbrechungen zur Folge hat. So wird das Rotwild in Österreich je nach Bundesland bis zu 8 Monate und in Deutschland bis zu 9 Monate im Jahr bejagt, ebenso wie Rehwild – und das Schwarzwild hat fast überall eine ganzjährige Schusszeit. Zusätzlich dazu kommt die enorme Beunruhigung durch die Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Verkehr sowie erholungsuchende Menschen. Das hat beim Wild eine gravierende Störung des Lebensrhythmus, des Verhaltens und der biologischen sowie physiologischen Prozesse zur Folge.
In der heutigen Kulturlandschaft lebt das Wild unter permanentem (chronischem) Stress in einem stark fragmentierten Lebensraum mit zahlreichen sichtbaren und unsichtbaren Barrieren. Weil die wildlebenden Tiere die meiste Zeit in der Deckung verbleiben und auf die freien Flächen zur Nahrungsaufnahme fast ausschließlich nur nachts austreten, ist die Jagd auch bei starkem Jagddruck meist wenig effizient. Sofern die Wildbewirtschaftung in den umfriedeten Gebieten verantwortungsvoll erfolgt, ist der Jagddruck selbst bei höheren Bestandsdichten im Vergleich zu den Freigebieten deutlich geringer. Erfolgt der Abschuss durch eine beschränkte Anzahl von Drückjagden und allenfalls punktuelle Einzeljagd, bedeutet das für das Wild in der Regel nur kurz andauernde intensive Stressbelastungen mit zwischenzeitlich ausreichenden Erholungsphasen.

Ein hochwertiges Produkt stellt das Wildbret dar. Unterschiede in der Qualität des Wildbrets, ob nun das Wild in Gatterhaltung oder im Außenbereich lebend, gibt es nicht, sofern eine naturgemäße Ernährung gewährleistet ist. Bei den Wildtieren ist ähnlich wie bei den Nutztieren bekannt, dass ein viel zu starker Stress vor dem Erlegen oder Schlachten zu einer objektiv messbaren Qualitätsminderung beim Fleisch führt. Trotz zahlreicher Studien, die sich mit dem Thema Wildbretqualität befassten, gibt es zurzeit keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse, die belegen, dass das Wildbret vom Wild aus umfriedeten Jagdgebieten bei den exakt messbaren Qualitätsparametern von Wildbret aus freien Natur abweichen würde. Im Gegenteil hat eine an Wildschweinen durchgeführte Untersuchung die mitunter vertretene Hypothese, dass Wild aus Gehegen bei gleicher Jagdmethode (Bewegungsjagd) generell einer höheren Stressbelastung als in der freien Natur ausgesetzt wäre, nicht bestätigt. Auch wenn die Ergebnisse dieser Studie eindeutig sind und bei einer ausreichend repräsentativen Anzahl von Untersuchungsproben gewonnen wurden, besteht trotzdem in dieser Hinsicht ein weiterer Forschungsbedarf, bei dem es aber nicht nur um die umfriedeten Jagdgebiete geht, sondern generell um die Auswirkungen der einzelnen Jagdmethoden auf die Wildbretqualität. Das ist aber genauso relevant für die Beurteilung des Wildbrets, das aus der freien Natur stammt.

So sollte man die Gatter nicht pauschal verurteilen, denn es gibt solche, in denen es dem Wild sogar besser geht als im Freien. Es kommt nur darauf an, welche Lebensbedingungen es dort hat und wie man mit ihm umgeht. Klar abzugrenzen sind Gehege, in denen das Wild naturfern nur zur Trophäenproduktion und Massenabschuss gezüchtet wird. Andererseits entfernt man sich auch in vielen freien Jagdgebieten oft sehr weit von dem respektvollen Umgang mit dem Wild, wenn nur seine Regulation im Vordergrund steht.
*) Die wissenschaftliche Veröffentlichung dieser Ergebnisse wird vorbereitet.

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